Am 1. Mai 1412 wird die Amplonianische Stiftung ins Leben gerufen. Mit ihr hat der Rheinberger Arzt und Theologe Amplonius Rating(k) de Berka einiges bewirkt und bis heute Spuren hinterlassen.
Wir wissen nicht, wann genau er geboren wurde (in Rheinberg um 1365). Wir wissen nicht, wie er an sein großes Vermögen kam. Wir wissen nicht, wie er aussah, und wir wissen auch nicht, wann genau er starb (um Ostern 1435).
Wohl aber wissen wir, daß sein Wirken für Rheinberg von nachhaltiger Bedeutung war und ist:
Bereits als junger Mann beginnt er, Bücher zu sammeln (und natürlich auch zu lesen!). Er studiert in Prag und Köln und an der neuen Universität in Erfurt, wo er 1939 als erster zum Doktor der Medizin promoviert und schließlich 1394/95 zum zweiten Rektor der Universität aufsteigt.
Amplonius kauft zahlreiche Bücher und läßt auch Texte kopieren. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern existiert noch nicht, Texte werden mit Tinte und Feder auf Pergament geschrieben, oftmals kunstvoll verziert und aufwendig in Leder eingebunden und sind entsprechend teuer: ein komplettes Buch besitzt damals umgerechnet den Wert eines heutigen Klein- bis Mittelklasse-PKW.
Als Amplonius um 1410 seine Büchersammlung katalogisiert, kommen 633 Codices zusammen, – ein enormes Vermögen, ein ungeheurer Schatz! Kein Privatmann nördlich der Alpen besitzt zu dieser Zeit eine größere und intellektuell anspruchsvollere Bibliothek als Amplonius! Und er behält diesen Wissensschatz nicht für sich, sondern macht ihn bildungshungrigen Menschen zugänglich.
Am 1. Mai 1412 vermacht Amplonius seine „Bibliotheca Amploniana“ einer soeben von ihm an der Universität Erfurt eingerichteten Studienstiftung, dem „Collegium Amplonianum“ oder „Collegium Porta Coeli“ (der Name „Himmelspforte“ – lat.: „Porta Coeli“ – stammt von dem Haus, in dem das Kolleg untergebracht ist). Mit dieser Stiftung sichert Amplonius den Bestand seiner Büchersammlung langfristig und macht sie quasi öffentlich.
Und jetzt kommt Rheinberg ins Spiel: Amplonius öffnet seine „Himmelspforte“ in Erfurt für Rheinbergs Jugend und er ermöglicht jungen und begabten Rheinbergern ein (kostenloses) Studium an der Universität Erfurt. Von den 15 in der „Himmelspforte“ zur Verfügung stehenden Kollegiatsstellen können neun von Schülern der Rheinberger Lateinschule besetzt werden. Damit initiiert Amplonius auf visionäre Weise eine beispielhafte Bildungsoffensive zu Gunsten seiner Heimatstadt und der dortigen Schule, die eine nachhaltige Aufwertung und Sicherung erfährt.
Die Lateinschule, Vorläuferschule des heutigen Amplonius-Gymnasiums und bereits 1337 urkundlich erwähnt, wird zum Sprungbrett für zahlreiche akademische Laufbahnen. Aber Amplonius weiß natürlich, dass seine Vorstellungen in einer kleinen Stadt ohne tatkräftige Hilfe kaum dauerhaft umzusetzen sind. Und so unterstützt er seine Geburtsstadt durch zweierlei Maßnahmen:
Zum einen stiftet er den Rheinbergern 300 Goldgulden – zur damaligen Zeit nicht gerade wenig! – zur Sicherung des Bestandes der Lateinschule und zur Besoldung eines Rektors, der den möglichen Kandidaten der Stiftung das erforderliche Rüstzeug für das Studium in Erfurt vermitteln soll. Am 20. April 1433 geloben Bürgermeister und Stadtrat feierlich, „allewege tot ewigen tyden eynen schoel-meyster“ für die Rheinberger Kinder einzustellen und zu besolden.
Eine weitere Hilfe erfährt die Rheinberger Lateinschule durch Amplonius‘ Verfügung, dass nämlich der Rektor der Schule Magister aus dem „Collegium Amplonianum“ und gebürtiger Rheinberger sein soll. Er muß seiner Aufgabe in der Heimatstadt für vier Jahre nachkommen und kann dann zum Abschluß seiner eigenen Studien in die „Himmelspforte“ nach Erfurt zurückkehren.
Zahlreiche Rektoren der Rheinberger Lateinschule, die aus dem „Collegium Amplonianum“ stammen, sind uns bekannt. Den Anfang macht Henricus Bruyn de Berka, insgesamt sechs Rektoren der Rheinberger Lateinschule, die aus dem „Collegium Amplonianum“ stammen, lassen sich in der Frühzeit der Bildungspartnerschaft zwischen Rheinberg und der Stiftung an der Universität Erfurt nachweisen:
1440-1444 (ca.) Henricus Bruyn de Berka. In der Matrikel des „Collegium Amplonianum“ heißt es unter Nr. 13: „… iste rexit scholas in Berka primo inter Berkenses.“
1444-1448 Gottfriedus Walack de Berka: „Rexit post magisterium suum in artibus scholam berkensem 4 annis post Magistrum Henricum Brunonis.“
1452-1456 (ca.) Rudolf Walack.
1456-1460 (ca.) Johann Hoensheim.
1460-1464 Rudolf Walack ist zum 2. Male Rektor der Lateinschule.
1466-1470 Mathias Dulling. Er promoviert 1466 zum Magister und wird unmittelbar danach Schulrektor in Rheinberg.
Weitere Rektoren der Lateinschule, die aus der „Himmelspforte“ kommen, sind uns bekannt.
150 Jahre vor der Gründung des Adolfinums im nahen Moers existiert in Rheinberg also eine gute weiterführende Schule, die erfolgreich mit einer hervorragenden Universität und einer funktionierenden Studienstiftung kooperiert und so zahlreiche akademische Aufstiegsmöglichkeiten bietet.
Zwischen 1438 und 1517 bekleiden insgesamt 10 Rheinberger die Rektorwürde an der Universität Erfurt. Weitere Rheinberger werden in Erfurt Dekane verschiedener Fakultäten, wiederum andere erhalten die Rektorwürde an bekannten Universitäten wie z.B. 1462 Gerhard Imhof (lat.: in Curia) in Basel, 1463 Johannes Helmich in Basel, 1466 Johannes Pilgrim in Köln … etc.
Die Dekane der „Himmelspforte“ sind – den Stiftungsstatuten entsprechend – Rheinberger; das Besetzungsrecht liegt beim Magistrat der niederrheinischen Stadt. Bis 1816 lassen sich an der „Himmelspforte“ 21 Dekane namentlich benennen, unter ihnen so bedeutende wie die nachfolgend aufgeführten Leiter des Kollegs:
1530-1545 Cornelius Lindanus (wird 1543 Rector Magnificus der Universität Erfurt).
1566-1595 Hugo in Curia (Imhof) – gibt den lange geübten Glaubenszwang auf und läßt endlich auch Protestanten als Kollegiaten zu.
1596-1644 Hermanus Lindanus oder zur Linde (mehrmals Rector Magnificus der Universität Erfurt: 1619-1622, 1637).
Der letzte Dekan der „Himmelspforte“ ist Jacob Dominicus, der Sohn des Rheinberger Krämers Johannes Lambert Dominicus. Als die Erfurter Universität 1816 schließt, verfügt Dominicus, dass die „Bibliotheca Amploniana“ in Erfurt verbleiben soll (wo sie sich noch heute befindet); das Haus „Zur Himmelspforte“ schließt seine Tore.
Der preußische Staat ist nach 1816 verantwortlich für die Aufsicht und Verwaltung der Amplonianische Stiftung, d.h. er verwaltet das Stiftungsvermögen, legt jährlich den Etat vor und besorgt die termingerechte Auszahlung der Stipendien. Die Stiftung selbst erhält eine neue, zeitgemäße Verfassung, wobei darauf geachtet wird, „in Gemäßheit des letzten Willens des Stifters“ zu handeln. Dieser Verfassung zufolge behält Rheinberg das Recht, aus dem Stiftungsvermögen acht Stipendien für Universitätsstudenten für jeweils drei Jahre zu verliehen.
Gemäß Dr. Aloys Wittrup, der 1903 die alte Lateinschule Rheinbergs in der Rektoratschule (als Keimzelle für das spätere Amplonius-Gymnasium) wieder aufleben läßt, werden auch immer wieder Stipendien an Rheinberger vergeben, beispielsweise an den in Rheinberg allseits geschätzten Geheimen Sanitätsrat Dr. Heinrich Schmitz (Ohmen Hendrek).
Im Februar 1940 teilt der Erfurter Regierungspräsident die Auflösung des Amplonianischen Stipendienfonds zu Gunsten des Staatlichen Kulturfonds Erfurt mit; Proteste der Stadt Rheinberg gegen diesen Verwaltungsakt sind erfolglos. 1943 sind noch Vermögensreste der Amplonianischen Stiftung im Universitätsfonds Erfurt vorhanden, die jedoch im März 1947 – zusammen mit weiteren „alten“ Stiftungen – endgültig und entgegen dem ursprünglichen Stifterwillen in der neu errichteten „Vereinigten Kirchen- und Klosterkammer“ untergehen und somit dem Zugriff des Rheinberger Rates vollständig entzogen werden.
Der Stiftungsgedanke aber lebt im Rat der Stadt Rheinberg weiter, der Anfang der 1950er Jahre die für damalige Verhältnisse große Summe von 30.000 DM für das Wiederaufleben der Amplonianischen Stiftung aus Rücklagen zur Verfügung stellt, um bedürftige Rheinberger Studenten durch Stipendien, später Darlehen zu unterstützen.
Bis 1988 ist das Vermögen dieses Hilfsfonds auf etwa 133.000 DM angewachsen; 1993 wird dieser Fonds aus rechtlichen Gründen aufgelöst und das Geld in verschiedene Projekte (u.a. in Rheinbergs Partnerstadt Hohenstein-Ernstthal) und einen „‚Archivfonds Amplonianische Stiftung“ gesteckt.
Im Jahr 2003, dem Jahr des 100-jährigen Schuljubiläums des Amplonius-Gymnasiums, wird dort der innerschulische „Amplonius-Fonds“ ins Leben gerufen. Damit soll an den Namenspatron der Schule erinnert werden und an die historische Bedeutung von Amplonius für die Bildung und Erziehung zahlreicher Rheinberger. Grundstein für die finanzielle Ausstattung des „Amplonius Fonds“ ist ein Restbetrag von 2.800 EUR aus dem „Archivfonds Amplonianische Stiftung“, den die Stadt Rheinberg der Schule dankenswerterweise zur Verfügung stellt. Mit dieser Summe können schon bald die ersten Unterstützungs- und Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler realisiert werden.
2012, zum 600-jährigen Jubiläum der Amplonianischen Stiftung, entsteht die Idee, die Stiftung in größerem Rahmen wiederaufleben zu lassen und Absolventen des Amplonius-Gymnasiums – ganz im Sine des Namensgebers – tatkräftig, d.h. finanziell, zu unterstützen. Zahlreiche Freundinnen und Freunde des Amplonius-Gymnasiums bringen sich in die neue Stiftung ein; Rheinberger Unternehmer, Bürgerinnen und Bürger, pensionierte und aktive Lehrkräfte der Schule, Ehemalige verschiedenster Abiturjahrgänge stellen größere und kleinere Summen zur Verfügung und zum Jahresende 2013 kann die neue Studienstiftung Amplonius NOVUS mit einem Stiftungskapital von 50.003 Euro an den Start gehen.
Seitdem unterstützt Amplonius NOVUS Absolventen des Amplonius-Gymnasiums durch ein Büchergeld zum Beginn des Studiums und durch Studienstipendien. Seit 2013 hat die Stiftung die exzellenten Schulleistungen von 41 Amplonianerinnen und Amplonianern gewürdigt und 3.400 Euro für den Erwerb von Büchern für das Studium zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig wurden und werden vier Stipendien finanziert, wofür bis heute 18.000 Euro bereitgestellt wurden.
Man sieht: Der 1. Mai 1412 war ein folgenreicher Tag für Rheinberg und seine Bildungslandschaft und noch heute wirken Amplonius‘ Vorstellungen – wenn auch von Vielen unbemerkt – in abgeänderter Form fort!