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Mai 2023
Das Kalenderblatt für den Mai 2023 präsentiert eine Seite aus dem Werk des von Amplonius sehr geschätzten Mediziners Halaf ibn ʿAbbās Abū al-Qāsim al-Zahrāwī. Die hier vorliegende Ausgabe der Abhandlung „Chirurgia“ datiert vom Anfang des 14. Jh. und stammt aus Italien (heutige Signatur: UB Erfurt, Dep. Erf. CA. 4° 211).
Halaf ibn ʿAbbās Abū al-Qāsim al-Zahrāwī, latinisiert Abulcasis und Abulcasim, war ein andalusischer Arzt und Wissenschaftler arabischer Herkunft (* ca. 936 in der Kalifatsstadt Madīnat az-Zahrā – heute UNESCO Welterbe acht Kilometer westlich von Córdoba gelegen; † um 1013 ebenda). Die medizinischen Schriften dieses wohl bedeutendsten arabischsprachigen Arztes des Mittelalters haben in ihrer Kombination arabischer und griechisch-römischer Lehren die europäische Medizin bis zur Renaissance geprägt. Sein Hauptwerk, eine medizinische Enzyklopädie in 30 Bänden betitelt „at-Tasrif“, beschäftigt sich u.a. mit den Themenbereichen Chirurgie, Augenheilkunde, Orthopädie, Pharmakologie, Ernährung etc.
1. Mai 1412: Die Stiftung des Amplonius
[Über] 600 Jahre ist es her, dass der gelehrte Arzt und Theologe Amplonius Rating aus Rheinberg am ersten Maisonntag des Jahres 1412 seine überaus umfangreiche und großartige Privatbibliothek in das Eigentum einer Stiftung überführte, die ihren ewigen Sitz in Erfurt haben sollte.
Es war der 1. Mai, und es war ein ‚Sonntag Cantante’ an dem Amplonius in Köln einen Rechtsakt vollzog, durch den er zu einer herausragenden Figur der europäischen Bibliotheks- und Kulturgeschichte werden sollte.
Amplonius näherte sich 1412 seinem 50. Lebensjahr. – Wir wissen leider nicht genau, wann er geboren wurde. Einzig aus dem Datum seiner ersten großen akademischen Prüfung, dem Bakkalaureatsexamen, können wir ableiten, dass er spätestens im Winter 1365/66 das Licht der Welt erblickt haben muss.
Mit Ende 40 befand sich ein Mensch, nach mittelalterlichen Maßstäben, bereits in einem recht fortge-schrittenem Alter. Doch als ‚alten‘ Mann müssen wir uns Amplonius zu dieser Zeit wohl noch nicht vorstellen. Denn immerhin wird er noch bis in die 1430er Jahre hinein (also für mehr als zwei Jahrzehnte) als Leibarzt der Erzbischöfe von Köln und Mainz beruflich tätig sein.
Mit Ende 40 konnte Amplonius auf eine beeindruckende Karriere als Mediziner, Universitätslehrer und Kirchenmann zurückblicken: Geboren in Rheinberg, als eines von mehreren Kindern einer wohlhabenden Familie, war er offenbar schon als Kind für eine kirchlich-akademische Laufbahn bestimmt worden. Schon als kleiner Junge nämlich wurde er von seinen Eltern auf die Schule des Stiftes St. Patroclus nach Soest geschickt, wo er Latein lernte und in die Lehrinhalte der sieben freien Künste eingeführt wurde. Das uni-versitäre Studium der ‚Artes liberales‘ absolvierte er bis 1387 in Prag, bevor er sich noch in Prag – und später dann in Köln – dem Studium der Medizin zuwenden konnte. Amplonius blieb damals nicht sehr lange in Köln, denn schon 1392 wechselte er als frisch examierter Mediziner an die soeben gegründete Erfurter Uni-versität. Im Eiltempo schreitet hier seine akademische Karriere voran: Promotion (heute würde man sagen Habilitation) zum Dr. med. wohl im Winter 1393, dann, im Mai 1394 die Wahl zum Rektor der Universität.
Doch Erfurt wird keineswegs die letzte Station des gerade einmal dreißigjährigen, ehrgeizigen jungen Professors bleiben. Schon im Frühjahr 1395 verlässt er die Stadt, in die er danach nur noch besuchsweise zurückkehren wird, und die er dennoch 1412 mit seiner epochalen Stiftung auszeichnen wird.
Wohin genau Amplonius sich unmittelbar nach seiner Erfurter Zeit wendet, womit er sich beschäftigt und auf welche Weise er jenen Reichtum erwirbt, der es ihm ermöglicht, seine grandiose Bibliothek aufzubauen … wir wissen es nicht! Ob er in dieser Zeit in Köln, ganz prosaisch, einen medizinischen Lehrstuhl erhielt und sich als Arzt und Gelehrter weiter profilierte, oder ob er große Reisen unternahm … wir können es nicht sagen!
Wie auch immer: Spätestens im März 1399 ist Amplonius wieder in Köln zu finden, wie der Kaufeintrag in einer Handschrift belegt, und noch im selben Jahr übernimmt er ein zweisemestriges Rektorat an der dorti-gen Universität. 1401 dann rückt er in die Position eines Leibarztes beim Kölner Erzbischof Friedrich von Saarwerden ein und scheint beruflich irgendwie ‚angekommen‘. – Sehr viel mehr als der Leibarzt eines wichtigen Erzbischofs oder eines Königs zu werden, das ‚geht‘ für einen mittelalterlichen Mediziner einfach nicht.
Und auch privat schafft Amplonius sich nun einen festeren Rahmen: Er verbindet sich mit der Herforder Bürgertochter Kunigunde von Hagen, die Ende August 1403 den Sohn Amplonius jun. zur Welt bringt. Auf ihn werden bis etwa 1410 noch mindestens drei weitere Kinder (Helena, Agnes und Dionysius) folgen.
Kunigunde, die gut 20 Jahre jünger als ihr Lebensgefährte gewesen sein muss, war sicherlich keine einfache Haushälterin oder Köchin, mit der der alternde Amplonius zufällig einige Kinder zeugte und von der er sich nach einigen Jahren dann wieder trennte. Ganz im Gegenteil gibt es Hinweise darauf, dass diese Frau, die aus einer hoch angesehenen Bürgerfamilie der Stadt Herford stammte, bis zu Amplonius‘ Tod menschlich eng mit ihm verbunden war. Wie hoch die Wertschätzung des Amplonius für Kunigunde war, zeigt sich auch in den letzten Festlegungen über seine Erfurter Kollegienstiftung aus dem Jahre 1435. Hierin bezeichnet er Kunigunde als „honesta matrona“ (als ehrhafte Frau) und ehrt sie bzw. ihre Familie mit dem Recht, eine Stipendiatenstelle in der ‚Porta Coeli‘ zu besetzen.
Zwar recht üblich für diese Zeit und gesellschaftlich durchaus akzeptiert, lag der Verbindung zwischen Amplonius und seiner Gefährtin allerdings keine rechtsgültige Eheschließung zugrunde. Denn Amplonius war zu dieser Zeit schon seit langem ein Kirchenmann: Die erste Anwartschaft auf eine Kanonikerstelle, der einige weitere folgen sollten, hatte sein Vater für ihn bereits als Kind im Stift St. Patroclus zu Soest erworben. Seit den späten 1390er Jahren nun war Amplonius auch Kanoniker von St. Aposteln zu Köln, wo er in einem eigenen Haus auf dem Gelände des Stiftes lebte und um 1412 als Leiter des Chorgesangs (als ‚Choriepis-copus‘) zu den führenden Männern des Stiftes zählte.
Als Stiftskanoniker gehörte Amplonius einer Personengruppe an, deren Verbindungen zu ungebundenen Frauen im Mittelalter meist toleriert wurden. Da ein Stiftskanoniker – anders als ein Mönch – keinem Orden beigetreten war und keine mönchischen Gelübde ablegen musste, war ihm der Besitz von Privatvermögen erlaubt und er war auch nicht zum Zölibat verpflichtet, solange er nur die niederen Weihen erhalten hatte. Die Kinder aus solchen Verbindungen galten allerdings als unehelich. – Amplonius aber war schon vor seiner Verbindung zu Kunigunde zum Diakon geweiht worden und hatte damit eine höhere Weihe erhalten.
Amplonius stand stets zu den Kindern aus seiner Beziehung mit Kunigunde: Allen Vieren muss er kost-spielige päpstliche Dispense zur Kompensierung ihrer unehelichen Geburt verschafft haben: Andernfalls wäre es schier unmöglich gewesen, die beiden Töchter in eines der vornehmsten Stifte der Stadt Mainz einzukaufen und beiden Söhnen Kanonikate zu verschaffen sowie ihnen ein lang dauerndes Universitäts-studium zu ermöglichen.
Als Amplonius nun im Mai 1412 seine Bibliothek in eine Stiftung überführte, war er als Universitätslehrer, Leibarzt, Stiftsherr und Familienvater ein bereits ‚etablierter‘ Mann. Seine Büchersammlung dürfte auch da-mals schon legendär gewesen sein: Kein Privatmann nördlich und wahrscheinlich auch nicht südlich der Alpen besaß zu dieser Zeit – Jahrzehnte vor der Erfindung des Buchdrucks – eine größere und intellektuell anspruchsvollere Bibliothek als der Dr. med. und Magister Artium Amplonius Rating aus Rheinberg.
Was für ein bemerkenswerter Vorgang also, diesen reichen Bücherschatz mit einmal aus der Hand zu geben und ihn einer Institution zu übertragen, die eigentlich noch gar nicht ihren Betrieb aufgenommen hatte – denn auch das ‚Collegium Porta Coeli‘ wurde erst an diesem Tag gestiftet und war zukünftig noch in jenen Häusern in der Erfurter Michaelisstraße zu etablieren, die Amplonius vom Rat der Stadt für sein Collegium überlassenen worden waren.
Und: Was für ein eigentümlich privater Rahmen, an diesem ersten Mai des Jahres 1412, an dem Amplonius fünf Männer zur Abendstunde in seine Stiftskurie gerufen hatte, um den folgenreichen Rechtsakt zu voll-ziehen und die epochale Schenkung zu beurkunden.
Dieses Haus, in dem sich die Männer einfanden, lag mitten in Köln auf dem Gelände des Stiftes St. Aposteln. Das Stiftsgelände, die sogenannte ‚Immunität‘, war eine Welt für sich: Die vielfältigen Geräusche der Stadt wurden gedämpft durch die hohen und alten Mauern, die das Gelände umgaben. Hinter dem mächtigen romanischen Chor der Kirche erstreckten sich die Reste der römischen Stadtmauer, die die Immunität vom stets belebten Neumarkt abtrennten.
Hier also lebte Amplonius seit den späten 1390er Jahren bis zu seinem Tod im Jahre 1435 – mit Unter-brechungen – für etwa vier Jahrzehnte in einem der schmalen hohen Häuser der Stiftsherren, einer soge-nannten Kurie. Ich vermute, dass es ein ruhiges Haus gewesen ist, in dem kein Kindergeschrei zu hören war, obwohl Amplonius zu dieser Zeit Vater von vier kleinen Kindern war. Ich nehme nämlich an, dass Kunigunde von Hagen doch eher in einem standesgemäßen eigenen Haushalt in der Nähe lebte, zusammen mit den gemeinsamen Kindern, ihren Mägden, einer Amme und dem Hausgesinde. – Geld für eine doppelte Haus-haltsführung müßte vorhanden gewesen sein, da Amplonius ein vermögender Mann war und auch Kunigunde aus einer wohlhabenden Familie stammte.
Amplonius selbst, so glaube ich, bewohnte mit einem oder mehreren jungen Männern, die ihm als Schreiber und Sekretäre dienten, die Stiftskurie, die ich mir als das ‚Gehäuse‘ eines Gelehrten, als großes ‚Arbeits-zimmer‘ und Bücherlager vorstelle.
Wer am Anfang des 15. Jahrunderts in das Kölner Haus des Amplonius eintrat und so die Geräusche und Gerüche der Stadt hinter sich ließ, der muss sich in einer ganz eigenen ‚Welt’ wiedergefunden haben. Schon im Flur wird sich der Geruch der frischen Binsen oder Ruten, mit denen die Dielen üblicherweise ausgelegt waren, mit anderen eigentümlichen Gerüchen des Hauses vermischt haben: Mit dem Geruch von exotischen und einheimischen Gewürzen und Kräutern, die Amplonius als Zutaten für seine Medikamente dienten, und von denen er sicherlich stets ein wenig auf Vorrat zur Hand hatte. Aber auch mit dem Geruch der vielen Bücher: Dem Geruch von trockenem Leder, Papier und Pergament.
Überhaupt, die vielen Bücher: Rund 18 bis 20 laufende Meter, mindestens 633 Bände aller universitären Wissensgebiete, von der Mathematik und Astronomie über die Naturphilosophie und Medizin bis zur Theo-logie, hatte Amplonius bis 1412 mit höchster Kennerschaft und Liebe zum Detail zusammengebracht – so weist es der Katalog der Bibliothek aus, den Amplonius mit eigener Hand um 1410/12 abgeschrieben hatte. Kein Text in dieser Büchersammlung war wie der andere, auch wenn auf den ersten Blick die Standard-autoren mittelalterlicher Theologie, Naturphilosophie und Medizin in vielfachen Ausgaben und vermeintlich doublett vorhanden waren. Beim genaueren Hinsehen offenbarte sich dem Kenner jedoch, dass es Amplonius während der vergangenen rund dreißig Jahre seiner Sammeltätigkeit gelungen war, unterschied-lichste Übersetzungen, Kommentare und Textzusammenstellungen seiner Lieblingsautoren zusammenzu-tragen und so seiner Sammlung ein einzigartiges Profil von schwer zu übertreffender inhaltlicher Qualität zu geben: Nein, hier war wahrlich kein Text wie der andere, hier waren die besten Textausgaben versammelt, die auf dem Büchermarkt in den letzten Jahrzehnten zu haben gewesen waren!
Doch Amplonius, der Hausherr, war nicht nur Bücherliebhaber, sondern auch ein praktizierender gelehrter Arzt, in dessen Haus sich Gefäße und Gerätschaften für die medizinische Praxis befunden haben müssen: Neben Gläsern für die Urinschau und anderen Utensilien verfügte Amplonius wahrscheinlich über zahlreiche astronomische Geräte wie Astrolab, Quadrant und Sonnenuhr, um jene astronomischen Konstellationen berechnen zu können, die es ihm nach antik-mittelalterlichem Verständnis erlaubten, den rechten Be-handlungszeitpunkt für die angemessene ärztliche Methode zu wählen.
Amplonius hatte nun an diesem späten Nachmittag dieses ‚Sonntag Cantate‘ fünf Männer aus seinem engsten Umfeld um sich versammelt, die den Rechtsakt bezeugen sollten: Es waren dies sein Bruder Petrus und die beiden jüngeren Verwandten Gerhard von Berka und Johannes Wijssen sowie der Dekan des Stiftes St. Aposteln, Magister Johannes de Stummel. Als Notar fungierte der Mainzer Kleriker Hartung Pletzichen de Rodenberg.
Die Konstruktion, die Amplonius für die Bibliotheksstiftung wählte, ist genial zu nennen, zumal sie wohl bis in die Gegenwart ‚hält‘. – Über eine juristisch korrekte Auflösung der Stiftung ist bisher jedenfalls noch kein Nachweis geführt worden.
Amplonius, der Kleriker der Erzdiözese Köln und Professor der Kölner Universität, errichtet nämlich seine Stiftung eben nicht auf dem Gebiet des Erzbistums oder in der Stadt Köln. Und schon gar nicht verbindet er seine Stiftung unmittelbar mit einer Universität, sei es die Kölner oder die Erfurter. Und dies ist sehr weise, denn hatte nicht bereits die Bibliotheksstiftung des Marsilius von Inghen in Heidelberg keine 20 Jahre zuvor gelehrt, wie rasch eine solche Büchersammlung nach dem Tode des Stifters sang- und klanglos in einer Universitätsbibliothek aufgehen konnte?
Amplonius verhält sich klüger, oder sagen wir besser, er hatte ausgezeichnete juristische Berater, die eine ge-schickt verschachtelte Konstruktion ersonnen hatten: Die Stiftung eines Kollegs, das Eigentümerin der Biblio-thek wird, durch einen kölnischen Kleriker und Universitätsangehörigen für Studenten aus dem Kölner Erz-bistum, die dem Kölner Metropoliten eid- und gehorsamspflichtig waren, obgleich das Collegium selbst im Universitätsviertel der Stadt Erfurt, in der Erzdiözese Mainz, lag. – Damit waren auf einem Fleck so viele Parteien mit potentiell widerstreitenden Interessen versammelt, dass letztlich allen irgendwie die Hände gebunden waren, hätten sie Übergriffe in die Autonomie des Collegiums versuchen wollen …
Die Verlagerung der Stiftung nach Erfurt bot zudem weitere erhebliche Vorteile: Die Stadt tat viel dafür, um diese Stiftung zu bekommen, und bot Amplonius immerhin zwei große Häuser in bester Lage, nahe der Uni-versität an, um dort sein Collegium zu beheimaten. Für Amplonius selbst dürften Erfurt und seine Universi-tät als Ort seiner Stiftung aber auch noch aus einem anderen Grund interessanter als Köln gewesen sein: Die Stadt war wesentlich kleiner, die vom Rat stark geförderte Universität befand sich noch im Aufbau. Hier konnte seine Stiftung sehr viel besser zur Geltung kommen, als im saturierten Köln, hier waren sehr viel weniger Menschen einflussreich genug, um ihm oder seiner Stiftung schaden zu können.
– Amplonius tat also einiges dafür, dass seine Stiftung wirklich eine ewige wurde! Der Clou des Ganzen ist jedoch, dass es Amplonius mit der am 1. Mai 1412 vollzogenen Überführung seiner Privatbibliothek in eine Stiftung möglich wurde, seine Büchersammlung, die er mit so viel Ehrgeiz und Sachverstand über Jahrzehnte aufgebaut hatte, sein geistiges Erbe also, auf Dauer als Einheit zu erhalten und es vor begehrlichen Über-griffen oder unautorisiertem Zugriff zu schützen. Amplonius errichtete am 1. Mai 1412 eine Stiftung, die es ihm ermöglichte, sein Eigentum an den Büchern aufzugeben, ohne seinen für ihn ideell sicher kostbarsten Besitz zu verlieren: Denn der Stifter behielt sich den Nießbrauch der Bibliothek bis zu seinem Tode vor.
Auch für die Stadt Rheinberg und ihre Bewohner war die Stiftung der Bibliothek, aber viel mehr noch die Begründung des Collegiums zur Himmelspforte eine große Chance. Denn auch wenn es von 1412 an noch mehr als zwanzig Jahre dauern sollte, ehe das Collegium richtig ‚lief‘, so ermöglichten die 9 Collegiaten-stellen, die Rheinberg zur Besetzung zustanden, doch vielen jungen Männern aus dieser Stadt ein Universi-tätsstudium in Erfurt. Junge begabte Männer, die sonst die Mittel für ein Studium vielleicht gar nicht hätten aufbringen können. Die Stadt Rheinberg selbst profitierte in zweierlei Hinsicht von diesen Stipendien: Die Stadtschule, die seit mindestens 1337 bestand, wurde enorm aufgewertet, da durch die Stiftung des Amplonius gesichert wurde, dass ihr Rektor ein gründlich in den ‚Artes liberales‘ ausgebildeter Akademiker war. – Denn jeweils ein Stipendiat der ‚Porta Coeli‘ musste nach dem Magisterexamen für vier Jahre als Rektor an die Rheinberger Stadtschule zurückgehen, bevor er sein Studium an einer der höheren Fakultäten in Erfurt fortsetzen durfte.
Amplonius, der selbst wohl ein großer Netzwerker gewesen ist, legte so die Grundlagen für ein neues akade-misches Netzwerk, in dessen Zentrum Rheinberg und die ‚Porta Coeli‘ standen: Gut ausgebildete junge Rheinberger rekrutierten den Nachwuchs für das Colleg in der heimatlichen Schule. Den ausgebildeten Rheinberger Akademikern standen nach ihrem Studium dann manigfaltige Karrieremöglichkeiten in Kirche, Universität und Gesellschaft offen. Waren Sie erst einmal beruflich und gesellschaftlich etabliert, so konnten sie jüngere Angehörige dieses Rheinberger Netzwerkes weiter fördern, mit denen sie in der Regel auch ver-wandtschaftlich in irgendeiner Weise verbunden gewesen sein dürften, denn auch in Rheinberg waren die gesellschaftlichen Kreise zweifelsfrei relativ geschlossen!
Doch kommen wir zurück zum 1. Mai, zum ‚Sonntag Cantate‘ des Jahres 1412.
Mit dem Schenkungsakt, dessen 600hundersten Jahrestag wir nun begehen können, wurde aus der privaten Büchersammlung des Amplonius eine durch Stiftungsrecht geschützte Institution, die noch heute als ‚Bibliotheca Amploniana’ Bestand hat.
Diese Bibliotheksstiftung im Verein mit der Stiftung des Studienkollegs ‚Zur Himmelspforte’ (‚Ad Portam Coeli‘) verlieh dem intellektuell wie materiell reich begüterten akademischen Aufsteiger bürgerlicher Her-kunft, dem Dr. med. Amplonius Rating aus Rheinberg, aber nicht nur gesellschaftlichen Ruhm und Glanz als großzügiger Spender. Diese Stiftung sicherte ihm darüber hinaus auch einen bedeutenden Platz in der Bildungs- und Bibliotheksgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit.
Die Stiftung des Jahres 1412 hat aus Amplonius de Berka eine bedeutende Figur der europäischen Kultur-geschichte gemacht, und ihm, dem ehrgeizigen Sammler, ein Stück Unsterblickeit verliehen. Doch, und da bin ich mir ziemlich sicher: Genau das hatte Amplonius letztlich wahrscheinlich auch irgendwie so gewollt.
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Rede von Frau Dr. Brigitte Pfeil am 6. Mai 2012 auf dem Festakt der Stadt Rheinberg zum Jubiläum „600 Jahre Amplonianische Stiftung“.